Mit diesem Satz eröffnet Lena Gorelik die Auftaktvorlesung der Poetikdozentur und hinterfragt auf diese Weise sofort die Angemessenheit dieses Einstiegs. Ist er zu kitschig? Wie viele Autor*innen haben so bereits einen Vortrag begonnen? Sie spricht über ihre Zweifel beim Schreiben, ihr anfängliches Bedürfnis nach einem Konzept und ihre Intuition, die die Kontrolle übernimmt, sobald das letzte Post-It geschrieben wurde.
Die Zuhörer*innen haben das Gefühl, den Schreibprozess dieser Vorlesung gemeinsam mit ihr zu durchleben. Welcher Satz eignet sich am besten für den Einstieg einer Poetikvorlesung – und wie lässt sich diese beenden? Auf diese Frage hat auch Gorelik keine eindeutige Antwort, ja nicht einmal auf die nach einem Titel. Stattdessen zeigt sie den Zuhörenden, wie es geht: Sie versuche lediglich zu schreiben, dann laufe sie nicht Gefahr, sich zu viel anzumaßen.
Die Sorge, sich nicht zu viel erlauben zu wollen, quält nicht alle Autor*innen. Sie beschäftigt vor allem diejenigen, deren Geschichten lange nicht gehört werden wollten. Sie beschäftigt vor allem diejenigen, die in Interviews weniger danach gefragt werden, wie ihr Arbeitsplatz aussieht und welche Texte sie beeinflusst haben, sondern die stattdessen eingehend zu ihrer geografischen und familiären Herkunft befragt werden. Lena Gorelik dürfe nie die Autorin ohne Adjektiv sein. Sie ist die russisch-jüdische, russisch-deutsche oder auch gerne die engagierte Autorin. Jede Geschichte enthält ein Ich, das erzählt, hinter jedem Text steckt eine Biografie. Aber die meisten Autor*innen schreiben Literatur – keine Autobiografien. Und wenn sie es doch tun, steht es gut lesbar auf dem Einband. Es geht um die Geschichten, die erzählt, um die Erfahrungen, die geteilt werden und die Figuren, die zur Identifikation einladen. Es sollten also lieber Texte und keine Lebensläufe besprochen werden.
Möglichkeiten zur Identifikation beim Lesen hat Gorelik in ihrer Jugend vermisst. In keinem einzigen Buch aus der Bibliothek konnte sie ihren Vater oder sich selbst erkennen. In keinem Text konnte sie dieses Gefühl des Anders-Seins, das sie empfand, entdecken. Also schreibt sie diese Geschichten heute selbst. So wie viele Autor*innen heutzutage das Gefühl der Ausgrenzung, des Nicht-Dazugehörens und damit endlich die Geschichten ’einer Gesellschaft der Vielen erzählen, und das sogar, ohne die Herkunft der Figuren näher festlegen zu müssen. If you know, you know.
Lena Goreliks Auftaktvorlesung ist wortgewaltig, fesselnd und sehr persönlich. Die Zuhörenden lauschen gespannt, fast andächtig ihren Worten – im Saal ist es auffällig still, während Lena Gorelik spricht. Der Applaus am Ende will nicht enden und viele Hörer*innen bleiben noch eine Weile im Foyer, suchen das Gehörte im Gespräch zu verarbeiten. Zu Zeiten, in denen xenophobische Diskurse immer salonfähiger werden, schlägt ihr Verdikt über den deutschen Literaturbetrieb stark ein: »Es ist ein Privileg, sich das Politische beim Schreiben einfach wegzudenken – ich möchte – solange wir in Zeiten wie diesen Leben, dieses Privileg gar nicht besitzen.«