So voll sind Seminarräume normalerweise nie, vor allem nicht an einem Freitagnachmittag. Doch eine Person schafft es, wovon andere Dozierende wohl träumen würden: Hannovers erste Poetikdozentin Lena Gorelik lockt mehr als 50 Studierende verschiedener Fachrichtungen am Wochenende vom 9. bis zum 11. Dezember für ein Blockseminar in das Conti-Hochhaus der Universität Hannover. Als sie sich vor das Plenum stellt, wird schnell klar – dieses Seminar wird anders.

Angelehnt an dem Seminartitel »Wir brauchen neue Namen« beginnt die Schriftstellerin Lena Gorelik ihr Seminar mit einer Schreibaufgabe. Sie diktiert den Anfang: »Mein Name ist« und wir Studierenden sollen ganz nach der Methode des automatischen Schreibens in fünf Minuten, ohne den Stift vom Papier abzusetzen, einen Text schreiben. Die Ergebnisse werden nicht gesammelt, einige Freiwillige dürfen ihre Texte vorlesen. Dabei zeigt sich, dass die Teilnehmenden durchaus Unterschiedliches mit ihren Namen verbinden und der Blick auf den eigenen Namen auch von außen mitbestimmt ist. Die einen verbinden ihn mit Diskriminierungserfahrungen, für andere stellt er eine tiefe Verbindung zu ihren Eltern dar und viele tragen ihn mit Stolz – der Stolz, einen bedeutsamen Namen zu tragen und den Wunsch, dieser Bedeutung gerecht zu werden.

Die Textauswahl des Blockseminars deklariert eindeutig, dass die deutschsprachige Literaturlandschaft längst neu besetzt ist. Gemeinsam besprechen wir den titelgebenden Roman Wir brauchen neue Namen von Bulawayo sowie Romane von zehn Neuen Deutschen Autor*innen mit Migrationsgeschichte. Im Plenum diskutieren wir, was diese Texte inhaltlich und formell verbinden könnte. Dabei fällt uns auf, dass viele Texte mehrsprachig und multiperspektivisch sind und Themen wie Fremdsein, Heimat und Ermächtigung verhandeln. Dabei lenkt Lena Gorelik im offenen Seminargespräch den Fokus auch immer wieder darauf, dass die Texte durch ihre jeweilige Machart auf verschiedene Weise vielfältige Perspektiven einnehmen. So lesen wir Vor der Zunahme der Zeichen, einen Facebookchat zwischen zwei Personen, und Dschinns, eine Familiengeschichte, die aus den sechs Perspektiven ihrer Mitglieder erzählt wird. So wie ›neue‹ Deutsche vielfältig sind, ist es auch die NEUE DEUTSCHE LITERATUR.

Lena Goreliks Enthusiasmus, über diese Texte zu sprechen, überträgt sich auf die Studierenden. Endlich ein ganzes Seminar, das mehrheitsdeutsche Identitäten dezentriert! Die Wortbeiträge hören gar nicht auf und der ganze Raum kommt in einen Flow. Wir melden uns gar nicht, wir reden miteinander über alle elf Bücher, wir spielen Szenen nach, wir schreiben Texte und lassen uns gemeinsam auf eine Dozentin ein, die uns ermutigt, motiviert und uns zeigt, dass jede*r schreiben kann. Wir sind begeistert von ihrer Text- und Themenauswahl. Diese individuellen Lebensnarrative werden ernstgenommen, anerkannt und auch dementsprechend besprochen. Lena Gorelik hat uns an diesem Wochenende gezeigt, dass wir neue Namen nicht nur brauchen, sondern sie schon längst hier sind. Einige von ihnen lauten Fatma, Shida, NoViolet, Nava, Dilek, Lin, Martin, Sharon Dodua, Slata, Karosh und Senthuran.