Am 10. Januar 2024 hält Ann Cotten als zweite Poetikdozentin Hannovers die Auftaktvorlesung, in welcher sie die Fragen nach einer vielstimmigen Gesellschaft und einer Vorstellung eines mehrsprachigen, postmigrantischen Schreibens angeht.

Ann Cotten führt bereits zu Beginn der Rede das Begriffspaar Anomie und Isonomie ein. Nach dem Soziologen Émile Durkheim trete die Anomie auf, wenn Abweichungen der Gesellschaftsnormen sowie regelwidriges Verhalten zur Regel werden, sodass das kollektive Bewusstsein nicht mehr für die Aufrechterhaltung der sozialen Normen und gesellschaftlichen Ordnung sorgen kann. Der zweite Begriff der Isonomie beschreibe nach dem japanischen Philosophen und Literaturwissenschaftler Kōjin Karatani die anarchistische Gleichstellungspolitik der vorgestellten Gesellschaft der Ionier*innen.

Aufbauend auf diesen beiden Stichworten bezieht Ann Cotten dieses ‚abweichende‘ Verhalten auf die Sprache. Sie führt an, dass ein alleiniges, unreflektiertes Schützen und Bewahren einer angemessenen sprachlichen Ordnung, die durch Regeln und Quantitäten gesichert ist, kontraproduktiv sei. Stattdessen solle ein Raum für die Plastizität für Neues und das provokative Ausloten von Grenzen geschaffen und genutzt werden. Es brauche demnach eine evolutionierte Sprachästhetik abseits der Richtlinie. Dieses Spiel mit der Sprache und die daraus resultierenden Kombinationen seien wichtig und wünschenswert.

Die Autorin betont dabei insbesondere den ergiebigen Wert der von der Norm abweichenden Devianz – das Fehlerhafte. Jeder Mensch habe eine resiliente, elastische und anpassungsfähige Datenprozession, in die sprachliche Daten aufgenommen und gespeichert werden. Diese sogenannte Sprachstatistik transformiere sich durch Fehler, die sich schließlich sogar als ‚richtig‘ durchsetzen können. Daher sei die Devianz in der Sprache wichtig, denn: „In der Devianz bin ich Mensch. Hier darf ich sein. Hier tut sich was.“

Angelehnt an Hiroki Azumas Philosophie des*r Tourist*in vergrößere ein mehrsprachiger, postmigrantischer Zustand die produktive Nutzung von Fehlern und den daraus resultierenden konstruktiven Raum. Die vergleichende Ästhetik der Mehrsprachigkeit sowie das Nichtwissen biete dabei den Nährboden für neue Erkenntnisse, Veränderungsdynamiken und Variationen. Zwar könne die Mehrsprachigkeit die Fehlerquote erhöhen, jedoch mache gerade diese das innovative Potenzial des sprachlich Möglichen, aber noch nie Gemachten enorm.

Insbesondere die inzwischen gealterten Migrant*innen erster Generation, die erst im Erwachsenenalter eine neue Fremdsprache erwarben, nimmt sie dabei in den Blick. Sie postuliert, dass diese sowohl von den harten Geschichten erzählen müssen als auch über die unfertigen Gedanken und seltsamen Einfälle sprechen sollen. Diese produktiven Sprachgeschichten bezeichnet sie als ästhetische Singularitäten.

Anregend und humorvoll zugleich fesselt Ann Cotten in ihrer einstündigen Rede die Zuhörer*innen im Literaturhaus. In dem Vortrag setzt sie sich mit dem komplexen Gefüge der Mehrsprachigkeit auseinander und bietet Einblicke in die verschiedenen Aspekte, indem sie sowohl historische Entwicklungen und persönliche Erfahrungen einbringt als auch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen sowie theoretische Konzepte darstellt und kontextualisiert. Der Vortrag wurde am Ende mit einem langanhaltenden Applaus beendet und klang in den daran anschließenden Gesprächen, in denen das Gehörte verarbeitet wurde, aus.

Prusha Karim

Poetikdozentin Ann Cotten während der Poetikvorlesung