Du, lass dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich

Wolf Biermann – Ermutigung

Die Nachfrage übersteigt die räumlichen Kapazitäten des Literaturhauses. Man trifft sich also an der Cumberlandschen Bühne. Wie erfreulich. Nichts daran ist selbstverständlich. Weder die Resonanz, noch die Laudationes und auch nicht die Verleihung der Poetikdozentur. Da ließe sich widersprechen, immerhin ist Nava Ebrahimi eine ausgezeichnete Schriftstellerin. Eine, die den „Dialog dem Vortrag“ vorzieht und in Ermangelung eines Gegenübers sich „selbst befragen und hinterfragen“ muss. „Vor allem letzteres kann ich gut, vielleicht zu gut.“

Das Zweifeln hat einen schlechten Ruf, dabei steckt in ihm der Kern jeder Erkenntnis. Ebrahimi bewegt sich fragend durch einen Vortrag, der die eigene Poetik ergründet. Dabei bilden Possessivpronomina eine erste Hürde, denn: Wie viel dieser „eigenen“ Poetik gehört ihr nun tatsächlich? Ebrahimi ist eine Beobachterin, gewiss, aber diese Beschreibung greift zu kurz, denn sie beobachtet nicht nur, sondern tritt in Kontakt. So entstehen bei Recherchen wertvolle Freundschaften, wie etwa zu Marianne aus dem Emsland. Ihr Anspruch an die eigene Literatur ist einer des Verbindens, ein Aufzeigen der Parallelen und Beziehungen.

„Am Ende bin ich wohl der Überzeugung, dass alles zusammenhängt und betrachte es als meine Aufgabe, dies für jedermann sichtbar zu machen. Ich erfinde die Welt mit meinen Büchern nicht neu, aber vielleicht verbinde ich sie neu.“

Die Welt kann jede neue Verbindung dringend gebrauchen, immerhin leben wir die unerträgliche Gleichzeitigkeit der Dinge. Ebrahimi ist gerührt und erschüttert vom Spektrum menschlicher Güte und Grausamkeit. Wir erleben ein unterschiedliches Maß, beispielsweise an polnischen Grenzen, wo ukrainische Geflüchtete mit offenen Armen empfangen und andere Geflüchtete zurück nach Belarus geprügelt werden. Oder bei einer Überfahrt auf Lesbos. Zwanzig Euro pro Person für den familienfreundlichen Fährentripp hier, mehrere tausend Euro und nächtliche Spießrutenfahrt unter Lebensgefahr da.

Diese Gleichzeitigkeit schlägt sich auch im Leben jener nieder, die biografisch bedingten Zugriff auf mehrere Perspektiven haben. Ebrahimi spricht über Menschen mit Migration, angelehnt an Masha Gessens „Leben mit Exil“ und stellt die Frage, wie über Migrant*innen geschrieben werden kann, ohne sie darauf zu reduzieren. Gerade und besonders weil es nicht die monolithische migrantische Erfahrung gibt. Die Präposition „mit“ ist hierbei besonders wesentlich. Migration ist kein vorübergehender Zustand, keine Diagnose, nichts, was es zu überwinden gilt, sondern eine menschliche Erfahrung. Das Spannungsfeld aus Migration und Exil schärft den Blick auf die Feinheiten ebendieser Erfahrung. „Exil beinhaltet aber auch die Hoffnung auf eine Rückkehr. Diese Hoffnung haben jene, die Iran verlassen, zumeist nicht mehr. Meine Eltern hegten sie noch, als sie Anfang der 80er-Jahre ausreisten, aber seit den 90-ern schwindet sie. Manche hoffen zwar weiterhin, aber sie wurden schon sehr, sehr oft enttäuscht. Diese Hoffnung hat inzwischen sogar etwas pathologisches.“

Unabhängig vom Ausgang sei die „elementare Traurigkeit“ in Folge des Erlebten nicht zu überwinden. Ebrahimi bezeichnet sich selbst als Mensch mit Postmigration, der mit ebendieser elementaren Traurigkeit der Eltern aufgewachsen und diese auch zu seiner eigenen gemacht hat. Nun gäbe es Impulse, Ebrahimi darauf zu reduzieren, aber das greife peinlich kurz, immerhin sei die Multiperspektivität gerade ein Wesensmerkmal (post-)migrantischen Lebens. Die Fähigkeit, mehrere Perspektiven einzunehmen, meist die der Mehrheitsgesellschaft und des Herkunftslandes der Eltern begleitet die post-migrantische Erfahrung. Diese Perspektiven widersprechen sich oft, und „was sie auf jeden Fall immer tun: Sie stellen einander in Frage. (…) Mit dem tiefen Verständnis für eine Perspektive entsteht ein Bewusstsein für die unzähligen weiteren Perspektiven, aus denen man die Welt betrachten kann. (…) Am Ende bleibt als Gemeinsames immer das Bedürfnis, gesehen und verstanden zu werden.“

Beispielhaft führt Ebrahimi den FishMac aus Shida Bazyars Roman Nachts ist es leise in Teheran an: „Wir waren mit diesem Roman angekommen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Ich realisierte dank dieser Lektüre erst, dass der Hunger danach, als Minderheit in Deutschland gesehen zu werden, so groß gewesen war, dass ein FishMac reichte, um mir Glücksgefühle zu bescheren.“

Verbinden, sehen, verstehen – das sind klare Leitplanken einer sich entfaltenden Poetik. Ebrahimi verbindet sie zur Lust am Erzählen und einem Gefühl der Verantwortung. Den Journalismus hat sie verlassen, weil die Grenzen des Handwerks einengend waren. Aktivismus ist auch nicht die Lösung, auch da brauche es Grenzen um sich einer Sache zu verschreiben. Ein Schreiben, das von einer politischen Haltung begleitet wird, ist regelmäßig dem Vorwurf des Engagements ausgesetzt. Ebrahimi lehnt die Unterscheidung autonomer und engagierter Literatur ab, weil das beschriebene Verantwortungsgefühl ein wesentlicher Bestandteil ihres Schreibens sei. Natürlich mischen sich darunter weitere Aspekte und Motivationen. Ob es sich dabei um ein Merkmal (post-)migrantischer Schriftsteller*innen handle? Das zu erforschen sei Aufgabe der Literaturwissenschaft. Aber: „Ich weiß nur – ob mit oder ohne Migration –, irgendetwas treibt uns alle an und ich wage zu behaupten, dass dieser Antrieb nie hundertprozentig rein oder vollkommen autonom ist.“

Henrik Szántó