Ein Bericht zum Blockseminar mit Nava Ebrahimi, das im Januar 2025 an der LUH stattfand.

Das Seminar startet an einem grauen Samstagmorgen, der in dem Moment beginnt, aufregend zu werden, in dem Nava Ebrahimi vor uns sitzt und davon erzählt, wie ihr letzter Roman entstanden ist. Nach und nach dröselt sie dieses ‚Ding der Unmöglichkeit‘, wie es einigen von uns erscheint, in seine Bestandteile auf und bricht damit nicht nur das Eis, sondern auch mit der vermeintlichen Unmöglichkeit ihrer Arbeit. Sie beginnt bei den Figuren, die scheinbar als flache, klischeeartige Charaktere angelegt sind und dadurch an Kontur gewinnen, dass sie sie miteinander in Beziehung setzt. Die Handlung ergibt sich dabei optimalerweise aus der Logik der Figuren und ihrer (inneren) Konflikte selbst heraus. Folgt der erste Impuls einem Reiz, der etwa beim Zeitungslesen entsteht, zeichnet sich das, was darauf folgt, durch einen hohen Grad an Intuition aus: „Wenn ich anfange zu schreiben, weiß ich oft nicht warum, sondern verlasse mich darauf, dass es einen Sinn haben wird, ohne es vorher zu wissen. So entsteht ein Roman – vieles ist halb zufällig“. Und so schafft es Nava, wie wir sie nennen dürfen, Autorin mehrerer solcher „Unmöglichkeiten“, das Unmögliche auf einmal gar nicht mehr so unmöglich erscheinen zu lassen, wie es im ersten Moment wirkt.

Die Frage danach, was Literatur kann, was sie darf und vielleicht auch muss, reflektiert Nava beim Schreiben stets mit – sei es durch die aktuellen politischen Ereignisse, die den Schreibprozess begleiten, oder durch die Distanznahme von diesen, um wieder schreiben zu können. Der Verantwortung einer Schriftstellerin, die die Welt beobachtet und am politischen Geschehen teilnimmt, kommt sie dabei über ihre Figuren nach: ist die Distanznahme notwendig, um ihnen so nah wie möglich zu kommen, ergibt sich daraus eine Erzählperspektive, die sich am politischen Weltgeschehen orientiert, ohne sich auf ein Thema beschränken zu müssen. Anders als der politische Aktivismus, den die Autorin deswegen nicht weniger bewundert, steht das Schreiben damit im Modus eines Beobachtens, das auf seine eigene Weise und über eine sich selbst generierende Ästhetik seinen Beitrag leistet.

Soweit ihre eigene Deutung des Mottos „Wann es Distanz braucht, um ganz nah dran sein zu können“. Danach sind wir dran: Beim Vorlesen der Essays, die wir in Vorbereitung auf das Seminar geschrieben haben, stellen wir fest, dass sich jeder Text durch einen ganz eigenen Zugang dem Thema „Nähe und Distanz“ annähert (sein „Ureigenes“, wie Nava es nennt). Gleichzeitig treten dabei immer wieder dieselben Assoziationen auf: während die Distanz mit einem Zustand von Objektivität, Bedachtheit und Reflexion assoziiert wird, steht die Nähe im Modus der Emotionalität, Betroffenheit und Unmittelbarkeit. Dieser Eindruck zeichnet sich auch in den Textauszügen ab, die im Anschluss bei Kaffee und Keksen diskutiert werden. Es handelt sich dabei um literarische Beispiele, die sich durch eine starke Nähe zu dem Beschriebenen auszeichnen. Während wir bei Salmen Gradowski feststellen, dass mit dieser Nähe einhergehend der Inhalt gewissermaßen über der Form steht, ist die Form bei Lena Gorelik an der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Beschriebenen beteiligt: die zahlreichen Wiederholungen setzen das Nicht-Vergehen des traumatischen Ereignisses hier sprachlich um. Andere Autor*innen wie Kästner, Bazyar und Camus spielen dagegen bewusst mit der Inszenierung von Nähe oder Distanz – sei es über die Figurenkonstellation, das Genre oder die Sprache. Nahezu alle Texte konstruieren dabei ein „Wir“ gegenüber einem „Ihr“, das sich mit der Frage auseinandersetzt, was das Eigene ausmacht. Auf diese Weise generieren die Texte eine weitere Dimension von Nähe und Distanz, die sie charakterisiert.

Am nächsten Morgen – der Himmel nicht mehr ganz so grau, die Atmosphäre vertrauter – üben wir uns alle in der Rolle der Lektor*innen. Nach dem Leitsatz „Was mir beim Lesen unweigerlich aufgefallen ist“ besprechen wir den Text eines Kommilitonen, der bereits einige Jahre an Schreiberfahrung mitbringt. Gemeinsam mit Nava, die das Lektorat aus ihrer eigenen Berufspraxis kennt, reflektieren wir, auf welche Weise und aufgrund welcher sprachlichen Eigenschaften der Text funktioniert.

Aus der distanzierten Position der Lektor*in heraus heißt es im Anschluss ‚Nähe wagen‘, denn nun schreiben wir unsere eigenen Texte. Als Impuls hierfür dient eine Schreibübung, bei der jede*r Teilnehmer*in eine ausgedachte Figur erhält. Manche der Figuren sind mit bestimmten Charaktereigenschaften ausgestattet (wie der „Lehrer, den du am wenigsten magst“ oder die „Frau, die heimlich in ihren Nachbarn verliebt ist“), andere lediglich konzeptuell angelegt (z.B. Zahnfee, Childless Catlady, Taxifahrerin). Neben der Beantwortung der Fragen, was die Figuren morgens, mittags und abends machen, helfen Impulse wie „Was ist ihr Verhältnis zur Musik?“, „Was ist ihr am allerpeinlichsten?“ oder „Wen bewundert sie am meisten?“, die schematisch angelegten Figuren zu individuellen Charakteren auszugestalten. Dabei entstehen Figuren, die ihrem Klischee auf geradezu karikative Art und Weise folgen und solche, die bewusst davon abweichen. Die Schreibübung hinterlässt bei den Seminar-Teilnehmer*innen nicht nur ein Gefühl dafür, wie schnell Figuren entstehen, die das Interesse wecken und gleichzeitig immer mehr Fragen aufmachen, sondern auch, wie aus solchen Figuren ganze Erzählungen entstehen können. Womit wir wieder beim Anfang wären. Manchmal braucht es Nähe, um die Distanz zu überwinden – sei es zu einem Text, zu einem Werk in Arbeit oder zu einer Schriftstellerin, die mit ihrer Poetik dazu inspiriert, mehr Literatur zu wagen.

Sophie Bröker