Zum Werkstattgespräch fand sich die US-amerikanisch-österreichische Autorin Ann Cotten am 06.06.2024 mit Laura Beck im Literaturhaus Hannover ein. Die Veranstaltung rundet zugleich ihre diesjährige hannoversche Poetikdozentur ab und dient als Lesung aus ihrem aktuellen Buch Die Anleitung der Vorfahren.
Die hannoversche Poetikdozentur wird an Autor:innen vergeben, deren Texte eine Gesellschaft der Vielen abbilden. Warum die Wahl auf Ann Cotten fällt, wird an diesem Abend schnell klar: Die Autorin wechselt zwischen Sprachen, Ländergrenzen und Wissensbeständen in erstaunlichem Tempo und das nicht nur in ihren Texten, sondern auch im Gespräch. Mit ihren philosophischen Kenntnissen und Ideen, naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel in Sprache umzuwandeln, den Wechseln zwischen Japanisch, Englisch, Deutsch und Begrifflichkeiten aus der indigenen Kultur Hawaiis und dem fließenden Übergang von Lyrik und Prosa vereint sie verschiedene Kultur- und Wissensräume. Wenn Cotten an diesem Abend Ausschnitte aus Die Anleitung der Vorfahren performt, fließen die Ideen, Sprachen, Verse, Sätze mühelos in neue, originelle Sinneinheiten. Das ist oft humorvoll und durchaus fordernd.
Cotten verrät, dass sie ein Ohr für Veränderungen ausbildet. Sie will immer umwandeln, verstehen, erleben. Ihre Wortspiele sind teils Witze in der alten Bedeutung von Pointen, teils mehrsprachige Spiele, die sich nur denen erschließen, die die in den jeweiligen Witz involvierten Sprachen verstehen. Sie bindet die spielerische Freude am Texten durchaus zurück an Ziele: So begebe sie sich in ihren Texten auf die Suche nach Vernunftlösungen, und ihr Schreiben diene dem Zweck, anders zu denken, andere Denkmuster zu ermöglichen.
Nun könnte man das als fortschrittlich oder progressiv bezeichnen. Cotten zeigt sich im Laufe des Abends, oft auf Nachfragen von Laura Beck, als Zivilisationskritikerin: Den Fortschrittsgläubigen solle man als Gespenst erscheinen. Es werden also zwei Fortschrittsbegriffe deutlich: Der eine strebt nach Originalität und fordert zum Textexperiment heraus, der andere scheint als liberale Fortschrittserzählung vom leichter werdenden Leben des Menschen ausgedient zu haben.
Die Komplexität der eigenen Texte ist Cotten durchaus bewusst. Die poeta-doctus-vibes lassen sie aber nicht abgehoben wirken, im Gegenteil stellt sie immer wieder den verdichtenden Prozess in den Vordergrund. Der reichliche Applaus im Laufe des Abends scheint ihr fast unangenehm. Gegen das Etikett ,Experimentalliteratur‘ wehrt sie sich überraschend vehement: Wahre Experimente fänden in konkreter Poesie oder in Texten, die klassische Syntax, Pragmatik, Morphologie aufzuheben versuchten, statt; sie sei dagegen jederzeit der Sinnproduktion und Kommunikation verpflichtet. Dieser radikalen Auslegung des Experimentbegriffs muss man nicht folgen. Es ist sicherlich trotzdem legitim, Cottens Literatur als experimentell zu bezeichnen, so anders als angepasstere Gegenwartsliteratur sind ihre Texte gemacht. Sie selbst nennt u.a. Elfriede Jelinek als mögliches Vorbild, für deren Texte ähnliches gelte.
Als Laura Beck die Frage der kulturellen Aneignung in den Raum stellt, findet Cotten unaufgeregte Worte. Sie ist sich bewusst, dass ihr Textprogramm sich Dinge unsensibel aneignen kann, und plädiert dabei für Fehlertoleranz. Ihre Sprachlehrerin im Kurs während des Studienaufenthalts auf Hawaii, welcher Die Anleitung der Vorfahren hervorgebracht hat, habe zwischen Verboten und Fehlertoleranz changiert. Das Lernen der Sprache versteht Cotten dabei als eine kollektive, gemeinsame Angelegenheit, welche ihr angeboten wurde. Dass sie dabei gar keine Probleme mit Verboten, Handlungsanweisungen, lokaler Autorität hat, während sie sich im europäischen Kontext progressiv und antiautoritär positioniert, gehört zu den vielen aufschlussreichen Pointen des Gesprächs.
Der Abend vergeht kurzweilig: Es macht Spaß, der Emphatikerin Ann Cotten zuzuhören und in ihre gedanklichen Winkel zu folgen. Ihre Freude am Sprachspiel ebenso wie ihre weitgehenden, eine schier unglaubliche Vielzahl an Themengebieten streifenden Antworten finden im Publikum hörbar positive Aufnahme. Nach Lena Gorelik und Ann Cotten darf man auf die nächste hannoversche Poetikdozentur gespannt sein.
Laurenz Pothast